Skip links

Das Deutschlandticket – Bahnfahren 3. Klasse

Wer hätte das gedacht? In Deutschland gibt es seit mehr als einem Jahr für Bahnreisende nicht nur die erste und zweite, nein nun auch wieder -wie anno dazumal- die dritte Klasse! Zwar sind die Bänke nicht wie früher hochgeklappt und die Menschen dürfen sitzen, sofern sie einen Platz ergattern, doch das Reisegefühl ist eindeutig drittklassig.

Eigentlich bin ich prädestiniert dafür, überhaupt nicht mit dem Zug zu reisen, da es an meinem Wohnort im Herzen Mecklenburgs in alle vier Himmelsrichtungen erst nach 35 Kilometern überhaupt einen benutzbaren Bahnhof gibt. In meinem Dorf Below fährt nur noch die Draisine und der Schulbus.

Trotz alledem kann ich regelmäßig den Versuchen nicht widerstehen, mich dem Experiment Deutsche Bahn zu unterziehen, so auch just in diesem Moment. Ich finde es auch mit regelmäßigen Verspätungen und mehreren Umstiegen immer noch angenehmer, auf dem Weg zum Markt zu häkeln, anstatt mich mit dem Auto in den Stau zu stellen. Möglich ist dieses nur, weil mein Partner meinen Stand in seinem Bus für mich transportiert.

Der Landkreis Ludwigslust-Parchim rühmt sich mit seinem öffentlichen Nahverkehr und einem gut durchdachten Rufbussystem. Doch das nützt mir zu Hause wenig. Um abends von Below nach Lübz zum Tischtennis und zurück zu gelangen, ist das eigene Auto alternativlos. Was soll ich also in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Deutschlandticket?

Obwohl es völlig sinnlos erscheint, entschließe ich mich trotzdem zu diesem Experiment. Vielleicht ist es eine Art unerschütterlicher Forscherdrang? Kurz, ich will es schlichtweg wissen: Was ist besser, das Sparticket mit zuggebundenen ICE-Zügen oder die komplette Freiheit im Nahverkehr?

Mein Experiment beginnt mit dem Versuch, ausnahmsweise nicht mit dem PKW, sondern dem Bus zum Bahnhof zu gelangen. Das Internet gibt Auskunft: Ich kann mit dem Ruf-Taxi von Below ins sechs Kilometer entfernte Dobbertin fahren, von dort mit dem nächsten Ruf-Taxi nach Goldberg, von dort wieder mit demselben Verkehrsmittel bis Lohmen, wo ich dann in den regulären Bus bis Bützow umsteigen soll. Fahrzeit zwei Stunden, um überhaupt den 35 km entfernten Bahnhof zu erreichen.

Zugegeben, es wäre möglich gewesen, immerhin. Dennoch wähle ich das Auto. Schließlich muss ich ja auf dem Rückweg auch wieder von Bützow nach Below gelangen. Das mit dem Ruftaxi ist eine nette Erfindung, aber für meine Zwecke sinnlos. Man muss es nämlich spätestens zwei Stunden vorher bestellen. Wie soll ich das tun, wo ich doch unmöglich wissen kann, mit welchem Zug oder Bus ich zurückkomme? Bei meinen bisher acht Fahrten mit dem Nahverkehr bin ich ein einziges Mal mit der ausgedruckten Verbindung angekommen. Irgendeiner der Züge hatte (fast) immer Verspätung, was den gesamten Reiseplan um ein bis zwei Stunden verlängerte.

Fazit: Für die Fahrt zum Bahnhof und für den privaten Gebrauch zu Hause ist das Deutschlandticket weder hilfreich noch eine Entlastung für das Klima, jedenfalls nicht, wenn man/frau in Mecklenburg auf dem Lande wohnt.

Bestätigt wird diese Erkenntnis zusätzlich durch ein lustiges Erlebnis auf einer Rückfahrt: Ich erreichte also nachts mit dem letzten Zug wieder Bützow. Auf dem Weg zu meinem dort parkenden PKW sprach mich eine Mitreisende an, ob ich wisse, wo hier die Busse fahren? Wir schauten uns gemeinsam um, neben uns gähnend leere Bushäuschen. Der Bahnhof in Bützow befindet sich am Ortsrand der Kleinstadt und erinnert schon bei Tageslicht an eine abgelegene Oase, jedoch um ein Uhr morgens ist es dort nahezu gespenstisch. Die Dame erzählt, ihr ICE hatte Verspätung und nun habe man sie über Bützow geschickt, um von dort mit dem Schienenersatzverkehr in das circa zwanzig Kilometer entfernte Güstrow zu gelangen. Nun stand sie also ohne Handy mitten in der Nacht auf dem gähnend leeren Bahnhof! Notgedrungen fuhr ich dann den Umweg über Güstrow. Was hätten wir beide ohne mein Auto gemacht?

Welcher ist genau der Unterschied zwischen dem Reisen zweiter und dritter Klasse? Mit dem zuggebundenen Sparticket verpasste ich regelmäßig meinen Anschlusszug und saß ein bis zwei Stunden fest in Leipzig, Berlin oder Hamburg. Das sind alles große Bahnhöfe mit Restauration, geheizten Wartesäalen und vor allem einer Information, wo ich die neue Verbindung ausgedruckt bekam inklusive dem Stempel „Zugbindung aufgehoben“ sowie dem Fahrgastrechteformular für die Rückerstattung. Bei einer Verspätung ab einer Stunde erstattet die Deutsche Bahn 25% und bei mehr als zwei Stunden sogar 50% des Ticketpreises. Ehrlich gesagt hatte ich diese Gutschriften bei der Buchung bereits miteinkalkuliert.

Mit dem Deutschlandticket nun entfallen nicht nur die Zugbindung und Rückerstattung, sondern auch der Bahnservice. Als Reisende dritter Klasse sind die Umstiege in Leipzig-Messe, Jüterborg, Bitterfeld oder Neustrelitz und vergleichbaren kundenfreundlichen Orten.

Zwei Beispiele: Nachdem ich -und mit mir ungefähr einhundert weitere Reisende- vorletzte Woche meinen Anschlusszug in Bitterfeld um genau zwei Minuten verpasst hatte, wollte ich die einstündige Wartezeit nutzen. Nach einer langen Odyssee durch Bauzäune gelangte ich an das auf dem Foto abgebildete Servicezentrum. Nicht einmal eine Imbissbude gab es! Glücklicherweise fand ich in meinem Rucksack Wasser und Kekse.

Auch in Jüterborg stellte ich fest, dass der Wechsel von Gleis drei auf Gleis vier, der sich auf dem Fahrplan so angenehm las, leider mit einer Reise durch die Unterführung auf Gleis eins, von dort weitere dreihundert Meter auf ein Nebengleis führte, wo natürlich der Anschlusszug nicht auf meinen verspäteten wartete. So harrten also geschätzte siebzig Menschen in einem einzigen überdachten Wartehäuschen im Regen aus. Dasselbe erlebte ich in Ludwigslust, Neustrelitz und Gößnitz. Diese Bahnhöfe beinhalten einen langen Weg mit mehreren Treppen zum Gleiswechsel; manchmal gibt es auch einen Aufzug.

Fazit: Reisen mit dem Deutschlandticket sollte man/frau möglichst ohne Gepäck oder mit sehr viel Zeit, Geduld und vor allem regenfester Kleidung sowie ausreichend Proviant unternehmen.

Einen weitere eklatanten Unterschied bemerkte ich: Während ich es gewohnt war, im ICE-Ruheabteil entspannt ein Buch zu lesen oder eine Mütze zu häkeln, erweist sich das im Regionalzug als schwierig. Hier reist die kulturelle Vielfalt Deutschlands. Schreiende Kinder arabischer Frauen rennen hemmungslos durch die Gänge, ein indisches Baby wird in aller Öffentlichkeit gewickelt, zwei ukrainische Frauen unterhalten sich lautstark im festen Glauben, nicht verstanden zu werden, ein schwarzafrikanischer Mann brüllt geradezu in einer fremden Sprache in sein Smartphone, als plötzlich eine Omi neben mir in akzentfreiem Deutsch fragt, ob der Platz neben mir noch frei sei.

In Zeiten internationaler Vernetzungen sowohl auf digitaler als auch analoger Ebene leben wir in einer mutlikulturellen Gesellschaft. Ich mag diesen weltoffenen Flair Deutschlands, der sich in den Regionalzügen widerspiegelt. Doch wenn die Kinder das gesamte Zugabteil zum Toben benutzen, ohne dass ihre Mütter in irgendeiner Weise eingreifen und mir nach einer Stunde Ukrainisch das Trommelfell fast platzt, kann ich Menschen verstehen, die sich in diesem internationalen Gewirr nicht mehr zu Hause fühlen.

Ich schreibe diesen Text gerade im Regionalexpress von Erfurt nach Göttingen, gemütlich am Tisch. Die Omi ist wieder ausgestiegen, stattdessen haben sich zwei deutsche Studentinnen zu mir gesetzt. Ihre Lautstärke übertrifft noch die der Asylantinnen. Ihre Erzählungen kann ich leider nicht ignorieren, da ich diese Sprache allzugut verstehe. Deshalb mache ich zwangsläufig eine Schreibpause, da die jungen Damen auf mein offensichtliches Konzentrationsbedürfnis keine Rücksicht nehmen.

Eine Stunde später – meine eloquenten Mitreisenden sind ausgestiegen und ich bin jetzt bestens gebildet über das Studium an der Erfurter Universität. Plötzlich wünsche ich mir sehnlichst fremdsprachige Gesellschaft, deren Unterhaltung ich einfach wie ein Radio im Hintergrund ignorieren kann.

Zurück zu meiner Anfangsfrage, was ist besser, Bahnfahrt zweiter oder dritter Klasse? Ich denke, beide haben Vor- und Nachteile. Ein besonderer Vorzug des Deutschlandtickets ist eine ungewohnte Reisefreiheit. Man/frau kann spontan morgens entscheiden, einfach loszufahren, ohne vorherige Buchung, ohne Zugbindung, ohne Platzreservierung. Lacht mich eine Stadt an, steige ich einfach aus, benutze dort den ÖPNV und nehme ein paar Stunden später den nächsten Zug zurück. Ich habe mehrere RentnerInnen getroffen, die von diesem Angebot regen Gebrauch machen und so durch Deutschland pilgern.

Fazit: Wer Zeit hat und kommunikationsfreundlich ist, kann mit dem Deutschlandticket für wenig Geld Einiges erleben. Wer zu einem bestimmten Termin am Zielort ankommen möchte, sollte die Bahn gar nicht benutzen, egal in welcher Klasse.

Mit dem ICE-Ticket erreichte ich immerhin eine leidlich pünktliche Ankunftsquote von 50%. Bei dem Deutschlandticket liegt sie bisher bei 10%.

Auch aktuell steht mein Zug schon wieder viel zu lange ohne ersichtlichen Grund. Deshalb muss ich mit dem Schreiben aufhören, um mir die nachfolgende Verbindung herauszusuchen. Ich entscheide mich für die längere Strecke über Hamburg nach Parchim, wo dieses Mal mein Auto geparkt ist. Bei einem ersten Versuch mit diesem Start- und Zielort saß ich zwischen Ludwigslust und Wittenberge im Schienenersatzverkehr, klimafreundlich gemeinsam mit fünf anderen Personen in insgesamt zwei Bussen. Die eineinhalbstündige Busfahrt im Dunkeln -man spart am Licht- sowie der einladende Bahnhof in Ludwigslust, wo ich im Dauerregen auf dem einzigen nicht überdachten Gleis vierzig Minuten auf die ODEG warten durfte, möchte ich heute auf keinen Fall noch einmal erleben müssen.

Trotz allem plane ich für nächste Woche schon wieder die nächste Bahnfahrt…schließlich erfreue ich mich meines Lebens sprichwörtlich in vollen Zügen.